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„Wenn der Alltag längst zurückgekehrt ist, wird uns das noch beschäftigen“
Dr. Christiane Razeghi blickt mit Sorge in die Zukunft. Die Kinderärztin warnt vor der fehlenden Förderung der Kinder während der Pandemie, denn die Nachwehen werden uns noch viele Jahre verfolgen.
Welche Veränderungen bemerken Sie aufgrund der Corona-Pandemie in Ihrer Praxis?
Das Krankheitsspektrum in unserer Praxis hat sich mit Beginn des ersten Lockdowns deutlich verändert: Jetzt im Februar hätten wir eigentlich viele Infektions-krankheiten. Normalerweise sehen wir in der Infektzeit ca. 130 Patienten am Tag. Diese sind aber drastisch zurückgegangen. Ein Vorteil der Masken und der Kontaktbeschränkungen – man steckt sich auch nicht mit anderen Krankheiten an. Viele hatten am Anfang der Pandemie auch Angst sich mit Corona anzustecken und wollten nicht in eine Arztpraxis gehen. Aktuell kommen schon wieder Kinder, aber viel weniger als sonst um diese Jahreszeit und mit anderen, oft psychosomatischen Beschwerden.
Was sind die Nachteile?
Da die Kinder seltener in die Praxis kommen und auch die Kindergärten und Schulen geschlossen sind, fallen einige Kinder durchs Raster. Bei Kindern gibt es viele Vorsorgeuntersuchungen, Impfungen und Entwicklungsthemen, die wir Kinderärzte aber auch Erzieher und Lehrer begleiten. Ein Austausch mit allen ist extrem wichtig, um das Kind bei Auffälligkeiten rechtzeitig und optimal zu fördern. Ein Beispiel sind Sprachentwicklungsstörungen, hier muss zeitnah mit einer Sprachtherapie begonnen werden. Dies fällt evtl. der Erzieherin im Kindergarten eher auf als bei den Vorsorgeuntersuchungen. Das kann aber auch eine Maserninfektion sein, weil die Impfung aus Angst vor Corona bisher nicht stattgefunden hat. Zudem waren die Eltern extrem verunsichert und hatten massiven Beratungsbedarf. Sie wussten z.B. nicht, wann das Kind nach der Erkältung wieder zur Schule darf oder wann ein Corona-Abstrich gemacht werden muss. Die offiziellen Vorgaben haben sich wöchentlich und sehr kurzfristig geändert.
Die Sportvereine sind zu, Mittagsbetreuung mit warmen Mahlzeiten findet nicht statt - wie steht es um die körperliche Gesundheit der Kinder?
Ich beobachte sowohl falsche als auch zu wenige Mahlzeiten. Viele Kinder kamen schon vor Corona ohne Frühstück zur Schule, nun fällt für einige noch dazu die einzige warme Mahlzeit am Tag in der Mittagsbetreuung aus. Bei der Bewegung gilt das gleiche, Sport und Bewegung ist im Moment für Kinder überhaupt nicht möglich. Die Kinder sitzen fast rund um die Uhr vor dem Computer, Fernseher oder anderen elektronischen Medien aufgrund von Distanzunterricht und den Kontaktbeschränkungen.
Das Kindeswohl und die Folgen des Lockdowns – was machen diese Einschränkungen mit Familien und besonders mit den Kindern?
In vielen Familien ist die Stimmung zunehmend gereizt, die Eltern kommen an Ihre Belastungsgrenze. Kinder aus sozial schwierigen Familien fallen komplett vom Radar, weil die äußere Kontrolle durch Kita oder Schule wegfällt. Das Jugendamt schickt zunehmend Kinder in die Notbetreuung der Schulen, um sie aus den Familien raus zu holen. Auch in den Kinderkliniken werden mehr Fälle von Missbrauch und körperlicher Gewalt gesehen. Wir beobachten auch zunehmend psychische Auffälligkeiten bei Kindern: 5.Klässler nässen in der Nacht wieder ein, Kinder, die abends beim Einschlafen vermehrt weinen, auch depressive Verstimmungen treten verstärkt auf – all das wird uns noch lange beschäftigen, auch wenn der Alltag längst wieder zurückgekehrt ist.
Seit dem 22. Februar sind Kitas und Grundschulen geöffnet, die Abschlussklassen im Wechselunterricht. Wie sehen Sie die Lockerungen?
Für die Kinder sind ein geregelter Alltag und auch der Kontakt zu Gleichaltrigen sehr wichtig, von daher finde ich das schon gut. Aber man muss auch weiterdenken: die Schüler waren lange im Home-Schooling und haben dadurch Defizite und Lücken - wie stellt sich die Politik vor, wie das aufgeholt werden soll?
Wie könnte man das noch besser machen? Was muss sich ändern?
Zurzeit wird nur auf die Inzidenz geschaut, aber auch andere Faktoren sollten betrachtet werden. Wer ist infiziert? Ist die Zahl wegen eines lokalen Ausbruchs hoch? Wie ist die Intensivauslastung? Anhand dieser Zusammenschau muss man dann Entscheidungen treffen, die – wie bei einem Medikament – Wirkungen und Nebenwirkungen hat. Die NoCovid-Strategie ist sicher sinnvoll zur Bekämpfung des Virus, aber sie hätte extreme Auswirkungen auf die Wirtschaft und die Psyche. Die Frage ist auch, wie wir mit dem Virus auf lange Sicht umgehen, denn Coronaviren gibt es schon lange vor COVID-19. Impfen ist sicherlich die beste Lösung, aber es ist schade, dass es so schleppend läuft. Außerdem müsste man viel mehr testen: die Schnelltests in der Breite für die ganze Bevölkerung hätten wir eher gebraucht. Genauso wie die FFP2-Pflicht in Pflegeheimen, um die vulnerabelsten Gruppen zu schützen.