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#Zeitreise: "Das Rote Kreuz war mein Leben"
Das BRK Zeitzeugenprojekt hält den wichtigen Wissensschatz von Zeitzeug*innen für die Nachwelt fest. In #Zeitreise erzählen wir von den Geschichten ausgewählter Zeitzeugen. Anton Huber war bis 2011 Kreisgeschäftsführer des KV Landsberg am Lech. Im Gespräch mit dem Zeitzeugenprojektteam spricht er über sein Lebenswerk, die Anfänge von Rettungsdienst und Notfallmedizin - und warum er sein gesamtes Leben dem Roten Kreuz widmete.
Herr Huber, können Sie sich kurz vorstellen und uns erzählen, wie Sie zum BRK gekommen sind?
Ich bin Anton Huber. Wir sitzen hier in unserem Haus in Stoffen und bin am 28. September 1949 genau hier geboren und nie weggezogen. Nach der Volksschule bin ich drei Jahre in die damalige Oberrealschule in Landsberg. Ich wollte dann etwas anderes machen und habe Industriekaufmann gelernt, dann elf Jahre als Bankkaufmann gearbeitet. Danach bin ich 1979 beruflich Kreisgeschäftsführer beim Roten Kreuz in Landsberg geworden, das war ich 33 Jahre, und dann bin ich in Rente gegangen.
Wie sind Sie zum Roten Kreuz gekommen?
Zum Roten Kreuz bin ich im Frühjahr 1965 gekommen, als ich mit 15 Jahre an einem Erste-Hilfe-Kurs vom Roten Kreuz teilgenommen hab. Das war damals so interessant, dass ich aktives Rotkreuz-Mitglied werden wollte. Nach knapp drei Jahren beim Jugendrotkreuz bin ich in die Sanitätskolonne eingetreten die heißt heute Bereitschaft. Seit ich 15 Jahre bin, hab ich mein Leben dem Roten Kreuz gewidmet, auch weiterhin ehrenamtlich während meiner Kreisgeschäftsführerzeit.
Warum haben Sie sich damals für den Erste-Hilfe-Kurs entschieden?
Aus einem inneren Bedürfnis der Hilfsbereitschaft. Eine ehrenamtliche Mitgliedschaft im Roten Kreuz war etwas Besonderes, damals schon, wie heute wahrscheinlich genauso. Ich wollte immer etwas machen, das einen Sinn macht. Ich bin auch Kirchenmitglied, aber im Vergleich zur Kirche ist das Rote Kreuz für alle da. Das war mir immer wichtig, keinen Unterschied machen. Henry Dunant war da ein großes Vorbild.
Und wie war's dann beim Jugendrotkreuz?
In den Dörfern draußen gab es keine Angebote außer Fußballclub und Schützenverein. Aber das Jugendrotkreuz hat damals Freizeitmaßnahmen gemacht, Zeltlager, Ausflüge, Sanitäts- und Betreuungsdienste bei Festen.
Dann direkt zur Bereitschaft?
Genau. Damals gab es die regelmäßigen wöchentlichen Bereitschaftsabende. Ein Rotkreuz-Arzt hat ehrenamtlich über bestimmte Ausbildungsthemen gesprochen. Irgendwann durfte man nach dem entsprechenden Okay vom Kolonnenführer mit im Krankentransport mitfahren. Am Anfang als dritter Mann und später dann ganz normal. Die Ausbildung damals war aus heutiger Sicht eine völlige Schmalspurausbildung und in den Fahrzeugen war nichts außer eine Trage und ein bisschen Verbandsmaterial. Der damalige Krankentransport war tatsächlich ein reiner Transport. In Landsberg gab es zwei oder drei Mercedes-Krankenwagen, ganz einfache PKWs. Und es gab einen VW-Bus als Krankenwagen.
Einen ganz normalen PKW als Krankenwagen?
Das Grundgestell war ein PKW, der wurde dann als Krankenwagen umgebaut. Und dann gab es 1972 den ersten Rettungswagen, der war schon größer, hatte ein Sauerstoffgerät. Und da sprach man zum ersten Mal vom Rettungsdienst. In den 1960er Jahren gab es auch den Begriff Notfallmedizin noch nicht. Die Überlebenschancen waren damals manchmal gering bei Schwerverletzten, die sind heute deutlich anders.
Gab es Einsätze, die Sie besonders in Erinnerung geblieben sind?
Ich kann mich an eine Situation erinnern, die hat mich über viele Jahre auch verfolgt. Ein Einsatz Sonntagmorgen im Herbst um 4 Uhr. Wir wurden gerufen, weil die Nachbarn festgestellt haben, dass aus dem Nachbarhaus Hilferufe kamen. Als wir wir dort ankamen, war die Türe offen, wir gingen in den Keller und haben einen leichten Geruch von Grillkohle festgestellt und finden dort unten drei tote Menschen neben zwei Kohlegrills. Die haben hier wegen kalter Witterung im Keller gegrillt und haben nicht bedacht, dass Kohlenmonoxid entsteht. Es gab damals auch keine Betreuung für Einsatzkräfte, man musste das irgendwie selbst verarbeiten. Das war vor 50 Jahren und dieses Bild ist immer noch da. Von diesen schweren, belastenden Einsätzen gab es viele.
Und wann ging es dann mit dem Notarzteinsätzen los?
Anfang der 1970er Jahre hat ein Anästhesist des Landsberger Krankenhauses begonnen, hier eine Art Notarztdienst zu installieren. Der Arzt ist mit seinem Privatfahrzeug mit einem selbstgebastelten gelben Schild mit "Arzt" darauf zu den Unfällen gefahren und hat im Stadtgebiet gehupt, weil er nicht mit Blaulicht und Sirene fahren durfte. Und es gab damals keine Rettungsleitstellen. Die Anrufe für einen Rotkreuz-Einsatz wurden in der Geschäftsstelle des Roten Kreuzes von Leuten angenommen, die dort drin gewohnt haben. Dieser Arzt hat daraus ganz konsequent Stück für Stück einen organisierten Notarztdienst aufgebaut. Hat uns Ehrenamtliche so ausgebildet, dass wir die Erstversorgung übernehmen konnten.
Wie lange sind Sie dann im Rettungsdienst gefahren?
13 Jahre, bis 1979. Bis zu dem Zeitpunkt, als ich hauptamtlich Geschäftsführer geworden bin. Dann ging das zeitlich nicht mehr. Als Geschäftsführer bin ich noch das eine oder andere Mal gefahren, wenn hier in der Schicht einer gefehlt hat und ich gerade da war. Aber ehrenamtlich in der Sanitätskolonne habe ich trotzdem am Wochenende hauptsächlich noch größere Einsätze mit Dienst gemacht. Wir hatten im Landkreis Landsberg jedes Jahr ein großes Military Reitturnier im Ammersee-Gebiet. Das haben wir betreut als Rotes Kreuz. Und da war ich also noch mindestens 15 Jahre mit tätig.
Was waren dann so die Tätigkeiten als Kreisgeschäftsführer?
Sagt Ihnen der Begriff "Eierlegende Wollmilchsau" was? So haben wir uns oft bezeichnet. Ein Geschäftsführer sollte das Rote Kreuz kennen. Er hat mit Ehrenamtlichen zu tun, war aber nie der Vorgesetzte von Ehrenamtlichen, das waren immer die jeweiligen ehrenamtlichen Leitungs- und Führungskräfte in den Gliederungen. Also Sanitätskolonne, Bereitschaften, Wasserwacht, Bergwacht, Jugendrotkreuz. Aber der Geschäftsführer war ja sozusagen die Schnittstelle, der war ja letztlich für das Geld zuständig. Du musst kaufmännisch für Geldbeschaffung, Mittelbeschaffung, Personalführung im Hauptamtbereich in der Lage sein. Als ich damals gekommen bin, gab es vielleicht 20 hauptamtlich Beschäftigte, ungefähr zehn Zivildienstleistende. Wie ich gegangen bin vor elf Jahren waren wir ungefähr 170 hauptamtlich beschäftigte Menschen. Und heute hat der jetzige Kreisverband 400 hauptamtlich Beschäftigte. Ich war der erste, der in Landsberg einen Kindergarten in der Rotkreuz-Trägerschaft hatte und das hat sich dann bayernweit ausgeweitet.
Was hat sich denn in Ihrer Zeit als Kreisgeschäftsführer vorwiegend verändert?
Am Anfang gab es den Rettungsdienst als hauptamtliches Geschäftsfeld, sonst nichts. 1984 gab es einen Fahrdienst für Behinderte und Kranke. Dann die Ausweitung des Rettungsdienstes, mehr Beschäftigte, mehr Fahrzeuge, größeres Gebäude. Dann gab es die ersten Kindertagesstätten. Dann betreutes Wohnen. Manchmal war das Umsetzen unserer Pläne schwierig, weil es genügend kommunalpolitisch manifestierte Menschen gab, die gesagt haben: "Das ist nicht eure Aufgabe. Das sollen die Kirchen machen, das soll die AWO machen und nicht das Rote Kreuz." Aber es ist gelungen, wie man sieht. Das Ehrenamt hat sich auch entwickelt. Da waren zehrende Tage dabei, teilweise halbstündlich durchgetaktet, 60 Stunden pro Woche.
Das klingt nach einer harten Zeit.
Ende der 80er Jahre hab ich in Bonn beim Deutschen Roten Kreuz eine Ausbildung gemacht zum Seminarleiter für Psychohygiene und später eine Ausbildung für Gesundheitspädagogik. Aus diesem Wissen heraus, habe ich über viele Jahre im Landsberger Roten Kreuz Antistresskurse geleitet. Das mache ich heute noch. Ich habe dann noch eine Aufgabe übernommen, das Kriseninterventionsteam. Das sind ehrenamtliche Kolleg*innen, die in den ersten Stunden nach einem Unfall oder Vorfall mit Todesfolge die Angehörigen betreuen. Verkehrsunfälle, Unfälle im Betrieb, tödlicher Herzinfarkt oder etwas Ähnliches. Da geht es um diese schrecklichen und plötzlichen Todesfälle, wo Menschen mitten aus dem Leben gerissen werden.
Keine leichte Aufgabe.
Mich und meine Frau hat es auch getroffen, 1998 ist unser zweitjüngerer Sohn mit 18 bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt. Und da war das Kriseninterventionsteam, das kurz davor gegründet wurde, bei mir. Ich habe dann aus unserer persönlichen Geschichte heraus ein Trauerbegleitseminar entwickelt, und habe 15 Jahre ehrenamtlich Menschen, die in ihrer Trauerwelt gelebt haben, begleitet, unterstützt. Ein anderes Seminar: Fasten und wandern, eine Woche lang. Die Menschen haben sich da angemeldet, die Gruppen waren immer voll. Über 25 Jahre habe ich insgesamt 44 solche Fastenwochen organisiert, durchgeführt, geleitet, alles ehrenamtlich beim Roten Kreuz.
Waren sie bei der DDR-Grenzöffnung 1989 auch involviert?
Da haben wir zu tun gehabt. In Landsberg hatten wir ja einen große Militärstandort. Der damalige Kasernenkommandant hat mich angerufen, an den Tag kann ich mich noch ganz genau erinnern, und sagt dann: "Herr Huber, wir haben folgende Aufgabe: Wir müssen übermorgen in unserer Kaserne 250 Menschen betreuen, wie lange wissen wir nicht. Wir machen gerade jetzt hier ein Gebäude frei von den Mannschaften und schauen, dass die Essen bekommen. Aber alles andere ist eure Sache." Und dann mussten wir innerhalb von zwei, drei Tagen im Kreisverband alles organisieren. Damals gab es ja kein Alarmierungssystem wie heute über Handy.
Das heißt, Sie haben alle Rotkreuzler durchgerufen?
Ja, die frei hatten. In der Geschäftsstelle haben fünf Leute telefoniert und alle zusammengetrommelt. Und gegen Mitternacht kamen tatsächlich ca. 250 Menschen, die wir betreut haben. Dann ist die Mauer gefallen, einige sind zurück und die meisten sind geblieben erstmal.
Auf 250 Leute aufzupassen, das ist ja keine einfache Aufgabe.
Die waren ja zum Teil vogelwild. Hatten nichts dabei und von nichts eine Ahnung hier, die waren ja ein ganz anderes System gewohnt. Wir haben Arztbesuche organisiert und in der Zeitung nach Paten gesucht. Hat funktioniert. Teamarbeit war mir immer wichtig. Auch als Geschäftsführer, wir hatten es mit den verschiedenen Einrichtungen so organisiert, dass wir immer ein Bereichsleitungsteam waren. Wenn ich eine Entscheidung treffen musste, habe ich immer Rücksprache gehalten, damit man nichts entscheidet, was irgendwo völlig an der Realität vorbeigeht.
Hat die Arbeit im Roten Kreuz Ihre Perspektive auf das Leben verändert?
Ja, natürlich. Man kommt ja mit allen möglichen Menschen zusammen, in allen möglichen Lebenssituationen. Wenn ich nicht beim Roten Kreuz gelandet wäre, dann wäre ich wahrscheinlich bei einer ähnlichen Organisation gelandet. Das ist meine Berufung, die Arbeit im Roten Kreuz hat mein Leben geprägt und prägt es immer noch. Bei meiner Verabschiedung 2011 habe ich abschließend gesagt: Das Rote Kreuz war mein Leben. Ich habe das ganze Leben unter diese Arbeit gestellt.